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Mein Besuch im Hotel New Hampshire


Nach dem großartigen Werk "Teufels Werk und Gottes Beitrag" ist das Buch "Das Hotel New Hampshire" mein zweites Rendesvouz mit John Irving.



Es gibt kaum einen Schriftsteller der zeitgenössischen amerikanischen Literatur, der so beliebt ist und oft gelesen wird wie John Irving. Schon in seinem Buch "Teufels Werk und Gottes Beitrag" fand ich auf jeder Seite liebevolle Absurdität, knallharten Alltagsrealismus und bizarre Ideen. Und das wunderbare an John Irving ist, dass all diese Dinge zu einer glaubhaften Einheit werden. Das muss man erst mal wuppen.




Das Buch



"Das Hotel New Hampshire" lässt uns in eine Familiengeschichte eintauchen, die manchmal weirder nicht sein könnte.


" Eine gefühlvolle Familiengeschichte, in der motarradfahrende und feministische Bären, weiße Vergewaltiger und schwarze Rächer, ein Wiener Hotel voller Huren und Anarchisten, ein Familienhund mit Flatulenz im Endstadium, Arthur Schnitzler, Moby-Dick, der große Gatsby, Gewichtheber, Geschwisterliebe und Freud vorkommen - nicht der Freud, sondern Freud der Bärenführer." - Beschreibung auf dem Buchrücken


Eines sei vorweg genommen: Die bis ins kleinste Detail gezeichneten Protagonisten, die Familie Berry, sind alle die Helden des Buches. Und deshalb geht uns das Schicksal jedes einzelnen so nah.

Als ich begann das Buch zu lesen, störte mich ein wenig, dass ich zunächst kein Gefühl dafür bekam worauf die Geschichte hinauslaufen wollte.

Doch bevor mich dieses Gefühl dazu brachte, das Buch wieder wegzulegen, war ich plötzlich im Strudel des Lebens der Familie Berry gefangen. Ihre Eigenheiten wurden mir vertraut, ihre Charakter so sichtbar, dass ich in meinem Kopf ganz klar ihre Stimmen hören konnte. Ich hatte mein Lieblinge und liebte doch jede Figur wegen ihrer unbehandelten Menschlichkeit.

@ John Irving Portrait von Gaby Gerster


Zunächst geht es in die Vergangenheit und wir hören die unglaubliche Geschichte, wie sich die Eltern der Berry Kinder kennenlernten. Nachdem diese erzählt ist, befinden wir uns mit einem Mal in der Gegenwart und leben, erleben, durchleben die Suche nach Sexualität, Gewalt, Liebe und Verlust. Und auch wenn mich die Ereignisse und Schicksalsschläge oft betroffen machten, schaffte es Irving, dass sie mich nicht deprimierten. Er zeigt uns einfach Möglichkeiten, mit der traurigen Absurdität des Lebens klar zu kommen. Und was man mit bedingungslosem Zusammenhalt alles meistern kann. Einem Zusammenhalt, den man sich in der heutigen Zeit oft vergeblich wünscht.


Keine Längen, keine Langeweile



Nicht ein Mal beim Lesen verlor ich mich in meinen eigenen Gedanken. Dieses Buch zu lesen bedeutet, dieses Buch als Film vor seinem inneren Auge abspielen zu sehen.


„Intellektuell? Was heißt das schon? Ich will gute Geschichten erzählen, das ist es, was ich will. Und die besten Geschichten spielen sich immer noch im Kopf ab.” - John Irving

Das mag daran liegen, das Irving sich zunächst zu einhundert Prozent über die Geschichte im Klaren ist, bevor er beginnt zu schreiben. Er arbeitet sie bis ins kleinste Detail aus. Danach konzentriert er sich voll und ganz auf die Sprache. Und das merkt man, denn jede seiner Figuren ist so klar ausgeleuchtet, als stünde sie im Zentrum einer kleinen, intimen Bühne. Mit einem Mikro in der Hand und zwei riesigen Bose Boxen auf jeder Seite. Nackt und unverfälscht. Und weil wir uns nach Unverfälschtheit in unserem Leben sehnen, nehmen wir jeden Handlungsstrang, jeden verrückten Charakterzug dankend entgegen und sind gleichzeitig erleichtert, dass jedes noch so große Problem überstanden werden kann. Auch wenn man nicht in das gesellschaftlich saubere Weltbild passt, kann man Glück finden.


"Wer weiß, wie er sein Leben gestalten muss, um glücklich zu sein, muss nur noch den Mut finden, es auch zu leben." - John Irving

Denn jede noch so irritierende Eigenschaft eines Menschen ist authentisch. Nachvollziehbar. Und wenn uns das zu verstehen schwer fällt, tut Liebe den Rest.




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